Wie funktioniert Lesen? – Eine Erklärung

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Fast jeder von uns liest. Ob Werbeplakate, Schilder, Bedienungsanleitungen, Internet-Artikel, wissenschaftliche Texte oder Bücher: Unsere Augen nehmen Informationen auf und unser Gehirn teilt uns mit, was wir da soeben gelesen haben. Aber wie funktioniert das überhaupt? Wie schaffen wir es, aus Zeichen, die letztendlich unterschiedlich zusammengewürfelte Buchstaben unseres Alphabets sind, etwas zu verinnerlichen und zu verstehen?

Dem gehe ich hier auf den Grund.

Lesen ist eine Schlüsselkompetenz zur Teilnahme an der Gesellschaft. So viel ist klar. Es ist eine anspruchsvolle Kulturtechnik, die sich über Jahrzehnte entwickelt hat und erlernbar ist. Doch wie funktioniert es genau?

Der Mensch ist eigentlich nicht zum Lesen geschaffen – es gibt kein „Lesegen“. Biologisch gesehen sind unsere Gehirne nicht anders als die von Höhlenmenschen, die weder lesen noch schreiben konnten. Unser Gehirn kann sich jedoch an neue Gegebenheiten und Situationen anpassen, indem Synapsen im Gehirn geschlossen werden, zum Beispiel, wenn man in der Grundschule das Lesen erlernt. Das nennt sich Plastizität des Gehirns. Die über 100 Milliarden Nervenzellen sorgen also dafür, dass wir neue Sinneseindrücke gut verarbeiten können.

Unsere Augen sind die Schnittstelle zwischen der äußeren und unserer inneren Welt. Dadurch, dass sich unsere Augen über einen Text bewegen, gelangen optische Reize in Form von Buchstaben auf die Netzhaut, wo sie umgewandelt und als neuronale Informationen in verschiedene Teile unseres Gehirns geschickt werden. Wir erleben eine Sinnentnahme bei den gelesenen Worten, auf die wir dann mit einem bestimmten Gefühl reagieren können. Dadurch wird neues Wissen in unserem Gedächtnis gespeichert, sowohl semantisches als auch bildhaftes, dass später auch die Grundlage dafür darstellt, wie wir neue Texte auffassen und bewerte.

Lesen ist kein flüssiger Vorgang. Abwechselnd springen unsere Augen zwischen Wörtern (Sakkaden) und bleiben stehen (Fixationen). Die Größe der Sprünge ist abhängig von verschiedenen Faktoren, zum Beispiel von unserer Lesekompetenz, der Sprache oder dem Anspruch des Textes. Beim Lesen speichern wir die gelesenen Informationen kurzzeitig und nehmen auch schon Buchstabenmuster wahr, die gleich darauf folgen, auch wenn sie für unser Blickfeld noch unscharf sind. Wenn ein Buchstabe oder ein Wort beim Lesefluss nicht entziffert werden kann, muss das Auge nochmal zurückspringen (Regression).

Wir passieren fünf Stationen, während wir einen Text lesen:
  1. Aufmerksamkeit
  2. Erkennung von Wortmustern
  3. Springen in Fixationen
  4. Umwandlung des Gelesenen in Laute (Phoneme)
  5. Abruf von Wortwissen/unserem lexikalischen Gedächtnis

Lesen ist kein passiver Vorgang, sondern ein aktiver Prozess der Bedeutungskonstruktion, bei dem der Leser die Textinhalte unter Einwirkung seiner eigenen Interessen, Zielsetzungen und Erwartungen filtert. Er verbindet sie außerdem mit seinem Vorwissen und fügt sie in seine Wissensstruktur ein. Wenn man beispielsweise das Wort „Vampir“ hört, hat jeder automatisch ein eigenes Bild vor Augen sowie eine eigene Assoziation. Diese Assoziationen können auch beliebig erweitert oder umgeschrieben werden. Beim Lesen werden die Bilder, die im Gehirn entstehen, auch ständig erweitert, je mehr die Handlung voranschreitet oder neue Figuren eingeführt werden. Dabei werden auch Inkonsistenzen gerne vom Gehirn ausgeglichen, um einen Sinn aufrechtzuerhalten. Letztendlich bleiben nur Grundaussagen eines Textes im Gedächtnis.

Lesen ist ein komplexer Prozess. Es geht von der Buchstaben- und Worterkennung, über die syntaktische und semantische Analyse von Sätzen, dem Erkennen von rhetorischen Stilmitteln bis zur eigenen ästhetischen Bewertung des Gelesenen. Dabei gibt es auch einige interessante Effekte, die unseren Lesefluss beeinflussen:

Wortüberlegenheitseffekt

Manchmal erkennen wir beim Lesen ein Wort schneller als einen einzelnen Buchstaben (zum Beispiel das Wort „Affe“ im Gegensatz zum Buchstaben „f“).

Worthäufigkeitseffekt

Kurze und einfachere Wörter, die man generell oft verwendet (z.B. „dich“) werden vom Gehirn schneller erkannt als beispielsweise „sequentiell“.

Semantischer Priming-Effekt

Wenn man bereits das Wort „Affe“ gelesen hat, erkennt das Gehirn das Wort „Banane“ schneller als beispielsweise „Waschanlage“, da es sich um ein semantisches Wortfeld handelt.

Wortlängeneffekt

Das Wort „Schiff“ ist leichter zu erkennen als „Donaudampfschifffahrtskapitän“.

Nachbarschaftseffekt

Wörter, die sich ähnlich sind, werden vom Leser auch schneller erkannt als andere, wie zum Beispiel „Maus/Haus/Laus“.

Das war nur ein kleiner Einblick in die moderne Leseforschung. Wie hat dir das Thema gefallen? Lass es mich gerne wissen, falls ich mich zukünftig auf diesem Blog mit weiteren wissenschaftlichen Themen rund um das Lesen auseinandersetzen soll.

Quelle: Die meisten Informationen habe ich aus der Vorlesung „Lesen und Leser“ der Buchwissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.

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